Eine recht hohe Dunkelziffer ist für diejenigen anzunehmen, die bereits 1933 und in den Jahren danach vor der NS-Verfolgung ins Exil ausgewichen sind und die sich in vielen Fällen dann dort weiterhin antinazistisch engagiert haben, ohne dass sie später in ihre frühere Heimatstadt zurückgekehrt sind: So ist die einem jüdischen Elternhaus in Biebrich entstammende langjährige SPD-Reichstagsabgeordnete Toni Sender im Frühjahr 1933 nach wiederholten massiven antijüdischen Hetztiraden und sogar Morddrohungen Hals über Kopf aus Deutschland geflüchtet, um fortan vom Exil aus gegen das „Dritte Reich“ zu kämpfen. Nach dem Krieg wirkte sie weiterhin in den USA, deren Staatsbürgerin sie seit 1943 war. Sie ist aber gleichwohl ihrer alten Heimat bis an ihr Lebensende verbunden geblieben. Der Anteil von Frauen am hier wie aus dem Exil geleisteten Widerstand wird insgesamt auf etwa 20 Prozent geschätzt.
Kaum war das NS-Regime von den Alliierten militärisch bezwungen, traten
auch in unserer Stadt die von der Gestapo nicht enttarnten
Reststrukturen des Widerstandes sofort aus dem Untergrund hervor, um
sodann zusammen mit etwas später aus den Haftstätten des NS-Regimes, aus
dem Exil sowie aus dem Krieg zurückgekehrten Gesinnungsfreunden und
erstaunlich bald in enger Abstimmung mit der amerikanischen
Besatzungsmacht der politischen, gewerkschaftlichen und sonstigen
Re-Demokratisierung den Weg zu bahnen, und dies trotz des anfänglich von
der Militärregierung eigentlich verhängten Verbots jedweder
diesbezüglichen Betätigung. Basisdemokratisch konstituierte sich bereits
Ende März, Anfang April 1945 auf Initiative von Heinrich Roos der
überparteiliche Aufbau-Ausschuss Wiesbaden, welcher im Kern in seinem
vormaligen oppositionellen Freundeskreis wurzelte und sich als
„Vertretung der antinationalsozialistischen Kräfte“ unserer Stadt
verstand. Daneben rief auch ein Kampfbund gegen den Nazismus die
Bevölkerung zur konsequenten Beseitigung aller noch vorhandenen
Überbleibsel der Diktatur auf. Frühere Mitglieder der SPD schlossen sich
zunächst zum Anti-Nazi-Bund zusammen, die Kommunisten bildeten erst eine
Antifaschistische Vereinigung, und bürgerliche Kräfte riefen vorab eine
Demokratische Arbeitsgemeinschaft ins Leben. Diese drei Gruppierungen
waren die Keimzellen der am 28. September 1945 von den Amerikanern
lizenzierten Parteien SPD, KPD und CDP, alsbald CDU, während die
Gründung der liberaldemokratischen Partei erst einige Monate später
erfolgte. Die Demokratische Einheitsgewerkschaft Wiesbaden erhielt ihre
Zulassung am selben Tag.
Bemerkenswert bei alledem ist die Beteiligung einer außerordentlich großen Gruppe von Personen, die sich bereits während der Weimarer Republik in ihren Parteien, Gewerkschaften, Verbänden usw. auf kommunaler, Landes- bzw. Reichsebene für die Demokratie engagiert hatten. Hierzu gehörte nicht zuletzt der eingangs zitierte Georg Buch, der nach seiner Befreiung aus dem KZ Sachsenhausen im Frühjahr 1945 seine ganze Kraft aufbot für deren Wiedererrichtung sowie für ihre weitere Ausformung und Festigung, und zwar u. a. als Geschäftsführer bzw. Vorsitzender seiner Partei, als Dezernent für Ernährung und Wirtschaft, als Landtagsabgeordneter, später dann als Bürgermeister und Oberbürgermeister und schließlich als Präsident des Hessischen Landtags. Im Interesse der Demokratie seien, so hat Buch in der ersten Sitzung der fünf Wochen zuvor wieder frei gewählten Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung am 2. Juli 1946 betont, vor allen Dingen „alle Sonderinteressen auszuschalten“, und obendrein müsse immerfort beachtet werden, dass „das Gemeinwohl über allem steht“.
Die hier vorgestellten biographischen Porträts von Wiesbadener Bürgerinnen und Bürgern, die dem NS-Regime couragiert ihren Widerstand entgegengesetzt haben, sind lediglich eine exemplarische Auswahl. Sie, welche die Leitidee einer wirklichen Demokratie unter denkbar widrigen Bedingungen am Leben erhalten haben, gehören mit Fug und Recht zu den Vorkämpfern unseres heutigen freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. Ihrem Angedenken und der Bewahrung ihrer demokratischen Botschaft dient dieses besondere Informationsangebot.
Dr. Rolf Faber, Dr. Axel Ulrich
Herkunft der Bildquellen

Abb 10.jpg
Frühjahr 1945
Stadtarchiv Wiesbaden, NL 75, Nr. 3283
