Jene mutigen Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt, die sich schon vor
1933 der NSDAP und dann deren in jenem Jahr in Deutschland errichteten
Gewaltherrschaft in Wort, Schrift oder Tat mit dem erklärten Ziel ihrer
möglichst baldigen Beseitigung entgegenstemmten oder die seitdem
wenigstens ihre demokratische Gesinnung zu bewahren vermochten, lassen
sich nicht präzis quantifizieren. Unter Berücksichtigung einer nicht
unbeträchtlichen Dunkelziffer werden über die von der Städtischen
Betreuungsstelle für politisch, rassistisch und religiös Verfolgte im
Herbst 1946 insgesamt erfassten 740 politisch sowie religiös motivierten
Regimegegner hinaus hierzu vermutlich weitere Hunderte Couragierte
gehört haben. Es handelte sich dabei gleichwohl um eine nur winzige
Minderheit, denn die Einwohnerzahl Wiesbadens betrug 1933 rund 160.000
und fünf Jahre später etwas mehr als 170.000 Personen. Gänzlich
unbekannt ist zwangsläufig allein schon die Zahl jener, deren
antinazistisches Agieren die NS-Verfolger niemals ans Licht zu bringen
vermochten. Im Dunkeln liegt des Weiteren z. B. die Anzahl der
Wiesbadenerinnen und Wiesbadener, welche in jenen zwölf Jahren wegen
ihres Widerstandes vor oder nach ihrer Festnahme ermordet, nach einem
entsprechenden Strafverfahren bzw. einem Standgerichtsurteil
hingerichtet wurden oder die noch nach ihrer Befreiung an den Spätfolgen
ihrer während der Haft erlittenen Erkrankungen verstorben sind.
Das erste hiesige politisch bedingte NS-Mordopfer war der jüdische SPD-Kassierer Max Kassel, der am 22. April 1933 in seiner Wohnung in der Webergasse 46 von einem Rollkommando der SA erschossen worden ist. Einen Monat zuvor war der Gewerkschaftssekretär und SPD-Stadtverordnete Konrad Arndt in seiner Wohnung in der Oestricher Straße 6 von SA-Leuten bei einem Messerattentat lebensgefährlich verletzt worden. Auch beider Parteigenosse, der in der nahe gelegenen Winkeler Straße 17 wohnende Reichstagsabgeordnete, Stadtrat und Landesrat bei der Provinzialverwaltung Otto Witte, der unverzüglich Arndts Krankenhauseinweisung veranlasst und die Polizei benachrichtigt hatte, sah sich wie so viele andere seinerzeit unverhohlenen Morddrohungen der Demokratiefeinde von rechts ausgesetzt. Die Zeitungen waren voll von Berichten über ähnliche von den Hitler-Anhängern verübte Gewalttaten, bei denen nicht selten Schusswaffen zum Einsatz gekommen sind. Gegen die Aktivisten der KPD und ihrer Nebenorganisationen gingen die Nazis mit besonderer Brutalität vor, wodurch immer wieder auch Schwerverletzte und Mordopfer zu beklagen waren: So wurde der Kommunist Otto Quarch im Frühjahr bei einem Fluchtversuch angeschossen, was wenig später seinen Tod zur Folge hatte. Einige Monate danach wurde auch dessen Parteigenosse Karl Müller erschossen, weil er ebenfalls angeblich einen Fluchtversuch unternommen hatte. Hier wie anderenorts kam es schon in dieser Frühphase des „Dritten Reiches“ außerdem zu zahllosen Verhaftungen von NS-Gegnern vor allem aus den beiden unversöhnlich zerstrittenen Arbeiterparteien SPD und KPD, die vielfach drakonisch bestraft bzw. oftmals umgehend in eines der eilends errichteten Konzentrationslager deportiert wurden.
Während etwa ein Viertel der nach dem Krieg statistisch erfassten 644
Wiesbadenerinnen und Wiesbadener, welche aus politischen Gründen
verfolgt worden waren, der SPD und knapp zehn Prozent bürgerlichen
Parteien angehört haben, waren nicht ganz zwei Drittel Mitglieder der
KPD oder ihrer Nebenorganisationen. Diese hohe Verfolgungsquote der
Kommunisten rührte zum einen aus ihrer unbestreitbar respektierlichen
Risikobereitschaft, zum anderen aus ihrer verfehlten politischen
Lageeinschätzung und der daraus resultierenden verhängnisvollen
Strategie eines „Massenwiderstandes“. Durch die Verbreitung einer
Vielzahl von zum Teil in Wiesbaden, zum Teil von ihrer Bezirksleitung in
Frankfurt hergestellten, überdies aber auch von ihrem Exilapparat
eingeschmuggelten antinazistischen Flugblättern und Periodika hofften
sie, sich dabei allen Ernstes zunächst noch in einer „vorrevolutionären
Situation“ wähnend, das NS-Herrschaftssystem stürzen zu können, um
anschließend eine „Diktatur des Proletariats“ nach stalinistischem
Vorbild zu errichten. Wegen des horrenden Verfolgungsdrucks
zerbröckelten ihre anfänglich noch recht ausgeprägten illegalen
Organisationsstrukturen auch auf lokaler Ebene bereits nach wenigen
Jahren zusehends, bis sie spätestens während des Krieges nur noch einige
antinazistische Kleinstgruppen in den Arbeiterwohnvierteln wie auch in
verschiedenen Großbetrieben aufrechtzuerhalten bzw. neu zu bilden
vermochten, so etwa bei Kalle und Albert sowie in der Maschinenfabrik.
Zwar sammelten die Kommunisten weiterhin kleinere Geldbeträge zur
Finanzierung ihrer politischen Arbeit und darüber hinaus Lebensmittel
zur Unterstützung der Familien inhaftierter Gesinnungsfreunde, von
Untergetauchten und auch anderen Verfolgten. Aber lediglich sporadisch
und in immer geringerer Stückzahl konnten sie schließlich noch ihre
gegen die braune Diktatur gerichteten Aufrufe verbreiten. Ebenso
brachten sie jetzt nur noch vereinzelt einige ihrer Propagandaparolen an
Häuserwänden und Grundstücksmauern an, so z. B. in der Platter Straße.
Doch weder hierdurch noch mit ihrer dafür umso mehr intensivierten
antinazistischen Flüsterpropaganda ließ sich die bis zuletzt
größtenteils unbeirrbar nazifizierte Bevölkerung zum Sturz des
Terrorregimes mobilisieren und damit zur Errichtung des von den
Kommunisten herbeigesehnten „Räte-Deutschlands“. Einige Jahre später
erst haben Einzelne von ihnen, etwa der Gewerkschaftssekretär und
Kommunalpolitiker Paul Krüger, selbstkritisch bekannt, während der
Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ unverzeihlich viele politische
Fehler begangen zu haben.
Herkunft der Bildquellen

Abb 1.jpg
Deckblatt eines von Georg Buch zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 erstellten antinazistischen Aufrufs
Stadtarchiv Wiesbaden, NL 35, Nr. 403
![Titelseite der illegalen Betriebszeitung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition der KPD für die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe Wiesbaden, Mai 1933 [ZUM RGO-SCHEINWERFER]](bilder/Abb 2.jpg)
Abb 2.jpg
Titelseite der illegalen Betriebszeitung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition der KPD für die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe Wiesbaden, Mai 1933 [ZUM RGO-SCHEINWERFER]
Hessisches Landesarchiv, Abt. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 483, Nr. 1948

Abb 3.jpg
Hermann Görings Schießbefehl gegen kommunistische Flugblattverteiler
Stadtarchiv Wiesbaden, NL 75, Nr. 1130

![Titelseite der illegalen Betriebszeitung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition der KPD für die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe Wiesbaden, Mai 1933 [ZUM RGO-SCHEINWERFER]](bilder/Abb 2.jpg)
