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Zum Widerstand gegen das NS-Regime in Wiesbaden

Deckblatt eines von Georg Buch zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 erstellten antinazistischen Aufrufs Jene mutigen Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt, die sich schon vor 1933 der NSDAP und dann deren in jenem Jahr in Deutschland errichteten Gewaltherrschaft in Wort, Schrift oder Tat mit dem erklärten Ziel ihrer möglichst baldigen Beseitigung entgegenstemmten oder die seitdem wenigstens ihre demokratische Gesinnung zu bewahren vermochten, lassen sich nicht präzis quantifizieren. Unter Berücksichtigung einer nicht unbeträchtlichen Dunkelziffer werden über die von der Städtischen Betreuungsstelle für politisch, rassistisch und religiös Verfolgte im Herbst 1946 insgesamt erfassten 740 politisch sowie religiös motivierten Regimegegner hinaus hierzu vermutlich weitere Hunderte Couragierte gehört haben. Es handelte sich dabei gleichwohl um eine nur winzige Minderheit, denn die Einwohnerzahl Wiesbadens betrug 1933 rund 160.000 und fünf Jahre später etwas mehr als 170.000 Personen. Gänzlich unbekannt ist zwangsläufig allein schon die Zahl jener, deren antinazistisches Agieren die NS-Verfolger niemals ans Licht zu bringen vermochten. Im Dunkeln liegt des Weiteren z. B. die Anzahl der Wiesbadenerinnen und Wiesbadener, welche in jenen zwölf Jahren wegen ihres Widerstandes vor oder nach ihrer Festnahme ermordet, nach einem entsprechenden Strafverfahren bzw. einem Standgerichtsurteil hingerichtet wurden oder die noch nach ihrer Befreiung an den Spätfolgen ihrer während der Haft erlittenen Erkrankungen verstorben sind.

Das erste hiesige politisch bedingte NS-Mordopfer war der jüdische SPD-Kassierer Max Kassel, der am 22. April 1933 in seiner Wohnung in der Webergasse 46 von einem Rollkommando der SA erschossen worden ist. Einen Monat zuvor war der Gewerkschaftssekretär und SPD-Stadtverordnete Konrad Arndt in seiner Wohnung in der Oestricher Straße 6 von SA-Leuten bei einem Messerattentat lebensgefährlich verletzt worden. Auch beider Parteigenosse, der in der nahe gelegenen Winkeler Straße 17 wohnende Reichstagsabgeordnete, Stadtrat und Landesrat bei der Provinzialverwaltung Otto Witte, der unverzüglich Arndts Krankenhauseinweisung veranlasst und die Polizei benachrichtigt hatte, sah sich wie so viele andere seinerzeit unverhohlenen Morddrohungen der Demokratiefeinde von rechts ausgesetzt. Die Zeitungen waren voll von Berichten über ähnliche von den Hitler-Anhängern verübte Gewalttaten, bei denen nicht selten Schusswaffen zum Einsatz gekommen sind. Gegen die Aktivisten der KPD und ihrer Nebenorganisationen gingen die Nazis mit besonderer Brutalität vor, wodurch immer wieder auch Schwerverletzte und Mordopfer zu beklagen waren: So wurde der Kommunist Otto Quarch im Frühjahr bei einem Fluchtversuch angeschossen, was wenig später seinen Tod zur Folge hatte. Einige Monate danach wurde auch dessen Parteigenosse Karl Müller erschossen, weil er ebenfalls angeblich einen Fluchtversuch unternommen hatte. Hier wie anderenorts kam es schon in dieser Frühphase des „Dritten Reiches“ außerdem zu zahllosen Verhaftungen von NS-Gegnern vor allem aus den beiden unversöhnlich zerstrittenen Arbeiterparteien SPD und KPD, die vielfach drakonisch bestraft bzw. oftmals umgehend in eines der eilends errichteten Konzentrationslager deportiert wurden.

Titelseite der illegalen Betriebszeitung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition der KPD für die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe Wiesbaden, Mai 1933 [ZUM RGO-SCHEINWERFER] Während etwa ein Viertel der nach dem Krieg statistisch erfassten 644 Wiesbadenerinnen und Wiesbadener, welche aus politischen Gründen verfolgt worden waren, der SPD und knapp zehn Prozent bürgerlichen Parteien angehört haben, waren nicht ganz zwei Drittel Mitglieder der KPD oder ihrer Nebenorganisationen. Diese hohe Verfolgungsquote der Kommunisten rührte zum einen aus ihrer unbestreitbar respektierlichen Risikobereitschaft, zum anderen aus ihrer verfehlten politischen Lageeinschätzung und der daraus resultierenden verhängnisvollen Strategie eines „Massenwiderstandes“. Durch die Verbreitung einer Vielzahl von zum Teil in Wiesbaden, zum Teil von ihrer Bezirksleitung in Frankfurt hergestellten, überdies aber auch von ihrem Exilapparat eingeschmuggelten antinazistischen Flugblättern und Periodika hofften sie, sich dabei allen Ernstes zunächst noch in einer „vorrevolutionären Situation“ wähnend, das NS-Herrschaftssystem stürzen zu können, um anschließend eine „Diktatur des Proletariats“ nach stalinistischem Vorbild zu errichten. Wegen des horrenden Verfolgungsdrucks zerbröckelten ihre anfänglich noch recht ausgeprägten illegalen Organisationsstrukturen auch auf lokaler Ebene bereits nach wenigen Jahren zusehends, bis sie spätestens während des Krieges nur noch einige antinazistische Kleinstgruppen in den Arbeiterwohnvierteln wie auch in verschiedenen Großbetrieben aufrechtzuerhalten bzw. neu zu bilden vermochten, so etwa bei Kalle und Albert sowie in der Maschinenfabrik. Zwar sammelten die Kommunisten weiterhin kleinere Geldbeträge zur Finanzierung ihrer politischen Arbeit und darüber hinaus Lebensmittel zur Unterstützung der Familien inhaftierter Gesinnungsfreunde, von Untergetauchten und auch anderen Verfolgten. Aber lediglich sporadisch und in immer geringerer Stückzahl konnten sie schließlich noch ihre gegen die braune Diktatur gerichteten Aufrufe verbreiten. Ebenso brachten sie jetzt nur noch vereinzelt einige ihrer Propagandaparolen an Hermann Görings Schießbefehl gegen kommunistische FlugblattverteilerHäuserwänden und Grundstücksmauern an, so z. B. in der Platter Straße. Doch weder hierdurch noch mit ihrer dafür umso mehr intensivierten antinazistischen Flüsterpropaganda ließ sich die bis zuletzt größtenteils unbeirrbar nazifizierte Bevölkerung zum Sturz des Terrorregimes mobilisieren und damit zur Errichtung des von den Kommunisten herbeigesehnten „Räte-Deutschlands“. Einige Jahre später erst haben Einzelne von ihnen, etwa der Gewerkschaftssekretär und Kommunalpolitiker Paul Krüger, selbstkritisch bekannt, während der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ unverzeihlich viele politische Fehler begangen zu haben.

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Deckblatt eines von Georg Buch zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 erstellten antinazistischen Aufrufs

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Deckblatt eines von Georg Buch zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 erstellten antinazistischen Aufrufs

Stadtarchiv Wiesbaden, NL 35, Nr. 403

Titelseite der illegalen Betriebszeitung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition der KPD für die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe Wiesbaden, Mai 1933 [ZUM RGO-SCHEINWERFER]

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Titelseite der illegalen Betriebszeitung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition der KPD für die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe Wiesbaden, Mai 1933 [ZUM RGO-SCHEINWERFER]

Hessisches Landesarchiv, Abt. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 483, Nr. 1948

Hermann Görings Schießbefehl gegen kommunistische Flugblattverteiler

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Hermann Görings Schießbefehl gegen kommunistische Flugblattverteiler

Stadtarchiv Wiesbaden, NL 75, Nr. 1130

Deckblatt eines von Georg Buch zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 erstellten antinazistischen Aufrufs Titelseite der illegalen Betriebszeitung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition der KPD für die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe Wiesbaden, Mai 1933 [ZUM RGO-SCHEINWERFER] Hermann Görings Schießbefehl gegen kommunistische Flugblattverteiler